Arzneimittelsicherheit ist ein Thema von zunehmender gesellschaftlicher Bedeutung. Immer mehr Medien und TV Sendungen berichten über Nebenwirkungen von Medikamenten. Jährlich sterben rund 200.000 Menschen in Europa aufgrund von teils unbekannten Nebenwirkungen. 15 Millionen müssen pro Jahr wegen Nebenwirkungen in der Notaufnahme behandelt werden. Diese Zahlen ließen sich senken, wenn jeder Patient seine Nebenwirkung melden würde.
Doch wie meldet man eine Nebenwirkung und was geschieht eigentlich damit? Im Interview spricht Dr. Maria Lutz exklusiv über Ihre Tätigkeit im Bereich “Arzneimittelsicherheit” (Pharmakovigilanz) bei mehreren namhaften Pharmaherstellern.
Frau Dr. Lutz, Sie waren vorher in der Pharmakovigilanz tätig. Woran genau haben Sie jeden Tag gearbeitet?
Im Vordergrund stand immer die Bearbeitung der eingegangenen Meldungen über mutmaßliche Nebenwirkungen von Arzneimitteln des jeweiligen Pharmaherstellers, für den ich gearbeitet habe.
Die Daten der Meldungen werden erfasst und anonym in einer Datenbank gesammelt, aus der heraus später auch die Weiterleitung an die Europäische Zulassungsbehörde (EMA) erfolgt. Die Meldungen stammen aus verschiedenen Quellen: von Ärzten und Apothekern, aus Arzneimittelstudien oder direkt von Patienten oder deren Angehörigen.
Alle eingenommenen Medikamente werden dabei erfasst und der mögliche ursächliche Zusammenhang zwischen den gemeldeten Symptomen und dem verdächtigen Arzneimittel wird bewertet. Wenn noch Informationen fehlen, die für eine schlüssige Beurteilung erforderlich sind, wird der Melder angeschrieben und um weitere Informationen gebeten.
Aus allen Meldungen zu einem bestimmten Arzneimittel müssen außerdem in regelmäßigen Abständen so genannte periodische Sicherheitsberichte erstellt und an die Überwachungsbehörde weitergeleitet werden. Diese Berichte dienen – neben den Einzelfallmeldungen – auch als Grundlage für mögliche Rote-Hand-Briefe.
Müssen Nebenwirkungsmeldungen bestimmte Bedingungen erfüllen? Worauf genau wird bei der Bearbeitung geachtet?
Damit eine Nebenwirkungsmeldung “valide”, also gültig ist, müssen vier Kriterien erfüllt sein:
- Es muss eine konkrete Symptomatik (Nebenwirkung) vorliegen.
- Als Ursache muss ein bestimmtes (oder auch mehrere) Arzneimittel verdächtigt werden.
- Der Patient muss eindeutig durch Geschlecht und Alter identifizierbar sein.
- Die Meldequelle, aus der die Nebenwirkungsmeldung stammt, muss eindeutig erkennbar und (für den Fall von Rückfragen) kontaktierbar sein. Bei Patientenmeldungen sind Patient und Meldequelle identisch.
Patienten berichten häufig, dass Sie sich von Ihrem Arzt nicht ernst genommen fühlen. Werden die Nebenwirkungsmeldungen denn vom Hersteller ernst genommen?
Die Nebenwirkungsmeldungen aus allen Quellen werden vom Hersteller sehr ernst genommen. Früher waren nur ärztlicherseits bestätigte Meldungen an die Überwachungsbehörde weitergeleitet worden. Ärzte haben aber oft gar nicht die Zeit dazu.
Deshalb ist man vor etlichen Jahren bereits dazu übergegangen, auch Meldungen von Patienten und deren Angehörigen zu akzeptieren, auch wenn sie nicht durch einen Arzt bestätigt worden sind.
Mittlerweile sind die Hersteller sogar verpflichtet, regelmäßig nach Hinweisen auf mögliche Nebenwirkungen ihrer Präparate und Wirkstoffe in den Sozialen Medien zu suchen. Sobald die vier Kriterien für eine gültige Nebenwirkungsmeldung erfüllt sind, muss ein Fall an die Überwachungsbehörde weitergeleitet werden und findet dadurch Berücksichtigung bei den Nutzen-Risiko-Bewertungen.
Keines der Symptome im Beipackzettel beschreibt meine Probleme, die ich durch ein Medikament erleide. Ist das möglich oder bilde ich mir meine Nebenwirkung nur ein?
Es ist durchaus möglich, dass im Praxisgebrauch eines Medikaments Nebenwirkungen in Erscheinung treten, die noch unbekannt sind.
Damit ein Medikament in Deutschland überhaupt zugelassen und verkauft werden darf, müssen Hersteller klinische Studien durchführen. Die Häufigkeitsangaben zu Nebenwirkungen werden dabei aus der Anzahl der in den Studien beobachteten Nebenwirkungen bezogen auf die Gesamtzahl der in den Studien mit dem betreffenden Medikament behandelten Patienten errechnet.
In solchen klinischen Studien wird jedoch nur eine begrenzte Anzahl von Patienten berücksichtigt, einige Patientengruppen sind von Beginn an ausgeschlossen (z. B. ältere Menschen und Kinder sowie Schwangere). In der Praxis nehmen jedoch auch diese Menschen das Medikament ein, obwohl es nicht explizit für diese Patientengruppe getestet wurde.
Ein Auftreten von Nebenwirkungen, die noch nicht im Beipackzettel stehen, kann die Folge sein. Der Inhalt der Beipackzettel muss also fortlaufend überprüft und bei Bedarf aktualisiert werden.
Einige Nebenwirkungen sind ja bereits im Beipackzettel aufgelistet. Warum sollte ich dann noch Nebenwirkungen melden? Soll ich auch diese melden? Macht das nicht einfach nur Arbeit und bringt aber keine neuen Erkenntnisse?
Auch bereits bekannte Nebenwirkungen, die schon in der Packungsbeilage aufgeführt sind, sollten gemeldet werden. Denn jede Nebenwirkung ist darin mit einer Häufigkeitsangabe versehen, die durch Meldungen zu dem Medikament kontinuierlich überprüft wird.
Wenn eine vermeintlich seltene Nebenwirkung doch häufiger als nach den anfänglichen Studiendaten zu erwarten auftritt, lässt sich das nur feststellen, wenn auch “bekannte” Nebenwirkungen gemeldet werden. Dann wird die Produktinformation angepasst und in der neuen Version der Packungsbeilage erscheint eine bestimmte Nebenwirkung nicht mehr unter den seltenen, sondern vielleicht unter den gelegentlich oder sogar häufig auftretenden Nebenwirkungen.
Während man für die Häufigkeitsberechnung von Nebenwirkungen in klinischen Studien die Anzahl der mit einem Arzneimittel behandelten Patienten genau kennt, basieren die späteren Berechnungen nach Markteinführung eines Medikaments auf den Verkaufszahlen, anhand derer sich die Anzahl der eingenommenen Einzeldosen ableiten und daraus die Anzahl der behandelten Patienten abschätzen lässt.
Besonders ältere Menschen nehmen häufig viele verschiedene Medikamente ein. Sie sind dann verunsichert, welches Medikament die Nebenwirkung auslöst. Können dann Nebenwirkungen überhaupt festgestellt werden?
Bei vielen Medikamenten, die besonders gut untersucht sind und zu denen es viele Erfahrungsberichte gibt, können Nebenwirkungen auftreten, die den meisten Ärzten bekannt sein sollten. Sie sind typisch für ein Medikament oder eine Wirkstoffgruppe: z. B. tritt ein trockener Husten oftmals bei der Behandlung mit bestimmten Blutdrucksenkern (ACE-Hemmern) auf.
Andere Nebenwirkungen basieren auf dem Wirkprinzip eines Arzneimittels: So verlangsamen Betablocker beispielsweise den Herzschlag und senken den Blutdruck. Wenn also bei Einnahme eines solchen Medikaments die Anzahl der Herzschläge pro Minute deutlich unter 60 liegt oder dem Patienten schwindelig wird, wäre das ein Hinweis auf eine zu starke Wirkung. Die kann man mit einer Dosisanpassung, hier also einer Verringerung der Dosierung, beheben.
Je mehr Medikamente gleichzeitig eingenommen werden, desto schwieriger kann es sein, der Ursache einer Nebenwirkung auf den Grund zu kommen.
Hier ist der erfahrene Arzt gefragt, der die Nebenwirkungsprofile der von ihm verordneten Medikamente kennt und vor allen Dingen auch dem Patienten gut zuhört, wenn er von seinen noch immer bestehenden oder neu aufgetretenen Beschwerden berichtet. Diese sollten dann genau dokumentiert werden, um bei Auswertungen entsprechend berücksichtigt werden zu können.
Unabhängig vom Alter, wie meldet man Nebenwirkungen, wenn man mehrere Medikamente einnimmt?
Selbstverständlich ist die Einnahme mehrerer Medikamente nicht nur auf ältere Patienten begrenzt. Auch junge Patienten und Kinder können so schwer erkrankt sein, dass sie mit verschiedenen Medikamenten gleichzeitig behandelt werden müssen.
Grundsätzlich gilt: Teilen Sie alle Medikamente mit, die eingenommen werden. Je genauer Sie dies tun (inklusive Dosierung und ungefährer Einnahmezeitraum oder Zeitpunkt), desto mehr erleichtern Sie es medizinischen Experten, Zusammenhänge einzuordnen und zu bewerten.
Die Nebenwirkungs-Meldebögen der Pharmahersteller und der Behörden sind eher zum Gebrauch durch medizinisches Fachpersonal entwickelt worden. Sie sind sehr komplex und für Laien oft schwer auszufüllen. Viele Patienten fühlen sich damit in der Regel überfordert.
Nebenwirkungen.de bietet einen einfachen, innovativen Online-Meldeservice. Sie als Patient können so direkt und ohne allzu großen Zeitaufwand ihre Symptome sowie alle eingenommenen Arzneimittel eingeben. Alle Meldungen werden dann anonymisiert an den Hersteller des jeweiligen hauptverdächtigen Arzneimittels übermittelt.
Meistens haben Sie als Patient bereits das richtige, intuitive Bauchgefühl, welches Medikament für Ihre Nebenwirkungen verantwortlich sein könnte. Dieses Medikament sollten Sie bei Ihrer Meldung an erster Stelle in der Reihenfolge der eingenommenen Arzneimittel eingeben und können im Kommentarfeld noch zusätzliche Informationen ergänzen.
Dürfen auch Angehörige eines Patienten die Nebenwirkungen melden?
Auch Angehörige (Ehepartner, Freunde, vor allen Dingen Eltern für ihre Kinder) dürfen Verdachtsfälle von Nebenwirkungen melden. Die patientenbezogenen Angaben müssen dann für den betreffenden Patienten gemacht werden, und als Kontaktadresse kann die Adresse des Melders oder auch die des Patienten hinterlegt werden. Im letzteren Fall sollte der betreffende Patient von der Meldung durch eine andere Person Kenntnis haben.
Was geschieht, wenn den Hersteller eine Meldung über eine schwerwiegende Nebenwirkung mit möglicherweise tödlichem Ausgang erreicht?
Meldungen über Todesfälle sind eher eine Seltenheit. Schwerwiegende Meldungen, egal mit welchem Ausgang, werden nach den Regeln des Arzneimittelgesetzes bearbeitet: Sie müssen spätestens 15 Kalendertage nach Eingang beim Hersteller an die Europäische Überwachungsbehörde (EMA) weitergeleitet werden.
Als “schwerwiegend” wird eine Meldung dann eingeschätzt, wenn sie eines dieser Kriterien erfüllt:
- Lebensbedrohlichkeit oder tödlicher Ausgang
- Notwendigkeit einer stationären Behandlung, z. B. durch einen Krankenhausaufenthalt, der 24 Stunden und länger nötig war
- Eintritt einer dauerhaften, maßgeblichen Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes, Behinderung oder Invalidität
- Angeborene Missbildung beim Kind nach Arzneimitteleinnahme der Mutter während der Schwangerschaft (oder des Vaters kurz vor oder zum Zeitpunkt der Zeugung)
Außerdem gibt es eine umfangreiche Liste medizinischer Symptome und Erkrankungen, die immer als schwerwiegend erachtet werden, selbst wenn diese nicht formal eines der vorgenannten Kriterien für einen schwerwiegenden Fall erfüllen: beispielsweise ein nur nachträglich im EKG sichtbarer, glimpflich und für den Patienten unbemerkt gebliebener Herzinfarkt, der nicht zur Behandlung in einem Krankenhaus geführt hat.
Melden Sie Ihre Nebenwirkungen!
Ihre Mitarbeit ist wichtig! Selbst Jahre nach der Zulassung sind längst nicht alle Nebenwirkungen bekannt. Wann immer Sie den Verdacht haben, an Nebenwirkungen oder Wechselwirkungen eines Medikamentes zu leiden, sollten Sie diese umgehend melden. Oftmals reichen wenige Meldungen aus, um die Öffentlichkeit über schwere Vorkommnisse zu informieren und Beipackzettel zukünftig zu aktualisieren, wie etwa die Rote-Hand-Briefe wirkungsvoll zeigen.
Über Nebenwirkungen.de haben Sie die einfache und schnelle Möglichkeit, Nebenwirkungen zu melden, ohne dabei Ihre Identität preiszugeben. Zudem können Sie Ihren Arzt oder Apotheker in die Meldung mit einbinden. Mit jeder Meldung tragen Sie aktiv zur Verbesserung der Arzneimittelsicherheit bei. Davon profitieren auch andere Patienten und sind Ihnen dankbar.