Rote-Hand-Briefe – was ist das eigentlich?
Mit den sogenannten ”Rote-Hand-Briefen” informieren die Pharmahersteller medizinische Fachkreise, d.h. Ärzte und Apotheker, über neu entdeckte Arzneimittelrisiken, wie etwa über Erkenntnisse zu neuen Neben- und Wechselwirkungen sowie fehlerhaften Produkten, die die Sicherheit eines Arzneimittels betreffen. In unserer neuen Rubrik fassen wir für Sie die primär an Fachkreise gerichteten Rote-Hand-Briefe einfach und kompakt zusammen. So sind Sie als Patient immer bestens über neue sicherheitsrelevante Ereignisse informiert, die die Einnahme von Medikamenten betreffen.
Liebe Patientin, lieber Patient,
Lesen Sie hier unsere “patientenfreundliche” Fassung des Rote-Hand-Briefes vom 07. Juni 2023 zu Fluorchinolon-haltigen Arzneimitteln.
Worum geht es?
Es geht um die Fluorchinolon-haltigen Antibiotika Ciprofloxacin, Delafloxacin, Levofloxacin, Moxifloxacin, Norfloxacin, Ofloxacin.
Die Antibiotika der Wirkstoffgruppe der Fluorchinolone werden oft auch kurz nur als “Chinolone” bezeichnet bzw. nach ihrer Wirkungsweise als “Gyrase-Hemmer”, da sie die Funktion des Enzyms “Gyrase” blockieren, das im Bakterienstoffwechsel bei der Vermehrung von Bakterien und damit für die Ausbreitung der Infektion mit diesem Erreger eine grundlegende Rolle spielt. Durch die Hemmung der Gyrase sind die Bakterien nicht mehr vermehrungsfähig, sie sterben ab, und die Infektion wird eingedämmt.
Fluorchinolon-haltige Antibiotika sind wirksam gegen zahlreiche Bakterienarten und sind als sogenannte Breitband-Antibiotika eine schlagkräftige Waffe zur Bekämpfung unterschiedlicher Infektionserreger, die wegen ihrer guten Wirkung sehr gerne von Ärzten verordnet werden.
Leider können diese Antibiotika sehr selten schwerwiegende und möglicherweise nicht mehr reparable (irreversible) Schädigungen / Nebenwirkungen hervorrufen.
Daher wurde im Jahr 2019 ihre Anwendung eingeschränkt. Die “patientenfreundliche” Form des Rote-Hand-Briefs von April 2019 mit ausführlichen Informationen über die möglichen schweren Nebenwirkungen und Beschränkungen der Anwendungsgebiete finden Sie hier.
Aktuelle Studiendaten deuten nun darauf hin, dass Fluorchinolone weiterhin außerhalb der empfohlenen Anwendungsgebiete verschrieben werden.
Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft hat daher diesen neuerlichen Rote-Hand-Brief veröffentlicht zur Erinnerung der Ärzte an die geltenden Anwendungsbeschränkungen, um Patienten vor den sehr seltenen schwerwiegenden, und unter Umständen dauerhaften Schädigungen durch diese Arzneimittel besser zu schützen.
Die Anwendungsbeschränkungen der Fluorchinolone gelten für die systemische (das ist die Einnahme als Tablette, Suspension/Saft oder per Infusion) und die inhalative (zur Einatmung über einen Vernebler) Anwendung.
Die Beschränkungen gelten nicht für die örtliche Anwendung (Augen- oder Ohrentropfen).
Systemisch und inhalativ angewendete Fluorchinolone sollten nicht verschrieben werden
-
- bei Patienten, die zuvor schwerwiegende Nebenwirkungen im Zusammenhang mit einem Chinolon- oder Fluorchinolon-haltigen Antibiotikum hatten
- zur Behandlung nicht schwerer oder selbstlimitierender Infektionen (z. B. Pharyngitis, Tonsillitis, akute Bronchitis)
- zur Behandlung leichter oder mittelschwerer Infektionen (einschließlich unkomplizierter Blasenentzündung, akutem Aufflammen einer chronischen Bronchitis und chronisch obstruktiver Lungenerkrankung/COPD, akuter bakterieller Nasennebenhöhlenentzündung, akuter Mittelohrentzündung), es sei denn, üblicherweise empfohlene Antibiotika werden als ungeeignet erachtet
- bei nicht-bakteriellen Infektionen (z. B. nicht-bakterielle [chronische] Entzündung der Prostata) zur Vorbeugung von Reisedurchfall oder wiederkehrenden Infektionen der unteren Harnwege
Besondere Vorsicht ist geboten bei gleichzeitiger Kortison-Behandlung, bei älteren Patienten generell, bei eingeschränkter Nierenfunktion und bei Patienten mit Organtransplantaten, da bei ihnen das Risiko für eine Fluorchinolon-induzierte Sehnenentzündung und einen Sehnenabriss erhöht sein kann.
Die Patienten sollten über das Risiko aufgeklärt und aufgefordert werden, bei den ersten Anzeichen einen Arzt aufzusuchen, bevor die Behandlung fortgesetzt wird.
Hintergründe:
Nach einer europäischen Bewertung des Risikos schwerwiegender, die Lebensqualität beeinträchtigender, lang anhaltender (Monate oder Jahre) und möglicherweise irreversibler Nebenwirkungen (vor allem des Binde- und Nervengewebes sowie der seelischen Gesundheit) wurde 2019 die Anwendung Fluorchinolon-haltiger Antibiotika eingeschränkt.
Diese Nebenwirkungen betreffen vor allem das Bindegewebe (einschließlich Muskeln und Gelenke) und das Nervengewebe (peripher – neurologisch sowie zentral – psychisch).
In einer aktuellen, von der Europäischen Arzneimittel-Agentur finanzierten Studie wurden Verschreibungsraten für Fluorchinolone in sechs europäischen Ländern einschließlich Deutschland analysiert. Die Höhe der Verordnungszahlen lässt vermuten, dass Fluorchinolone weiterhin außerhalb der zugelassenen Indikationen angewendet werden.
Diese Arzneimittel sollten nur in den zugelassenen Indikationen und auch nur nach sorgfältiger Nutzen-Risiko-Abwägung verschrieben werden. In vielen der zugelassenen Anwendungsgebieten sind Fluorchinolone nur als Behandlung der letzten Wahl vorgesehen, wenn zuvor eingesetzte andere Antibiotika nicht ausreichend wirksam waren.
Die Arzneimittelkommission erinnert auch an das Risiko für Aortenaneurysmen/-dissektionen (Aussackungen bzw. Riss der inneren Wandschicht der Hauptschlagader Aorta mit Einblutungen in die Aortenwand) sowie Schäden an den Herzklappen, die zu einem mangelhaften Klappenschluss (Klappeninsuffizienz) und letztlich einer schlechteren Versorgung des ganzen Körpers mit lebenswichtigem Sauerstoff führen. Bei Patienten mit einem Risiko für diese Erkrankungen sollten systemisch und inhalativ angewendete Fluorchinolone nur nach sorgfältigster Nutzen-Risiko-Abwägung angewendet werden. (Erklärung: Auch Gefäßwände und Herzklappen bestehen aus Bindegewebe!)
Gefährdet sind Patienten mit Aneurysma-Erkrankung in der Familiengeschichte, ein bereits vorbestehendes Aortenaneurysma oder vorbestehende Aortendissektion, Patienten mit Bluthochdruck und Arteriosklerose, außerdem Patienten mit angeborenen oder erworbenen Erkrankungen des Bindegewebes.
Diese Patienten sollten über das Risiko für Aortenaneurysmen und -dissektionen informiert und aufgefordert werden, bei plötzlich auftretenden schweren Bauch-, Brustkorb- oder Rückenschmerzen unverzüglich eine Notaufnahme aufzusuchen.
Was ist zu tun? Worauf sollten Sie achten?
Wenn Ihr Arzt Ihnen ein Fluorchinolon-haltiges Antibiotikum verschreibt, können Sie zum Beispiel die folgenden Fragen ansprechen:
- Ist in meiner Situation ein Antibiotikum dringend erforderlich oder kann ich gegebenenfalls abwarten, ob die Erkrankung alleine ausheilt?
- Entspricht die Anwendung von Fluorchinolonen in meiner Situation den aktuellen Empfehlungen?
- Gibt es ein anderes Antibiotikum, das möglicherweise alternativ infrage kommt?
- Liegen bei mir Risikofaktoren vor, die das Auftreten von Nebenwirkungen begünstigen könnten?
- Bei welchen Symptomen während der Behandlung sollte ich das Medikament nicht weiter einnehmen und mich wieder in der Praxis vorstellen?
Achten sollten Sie insbesondere auf folgende Beschwerden:
- Schmerzen in den Extremitäten (Arme und Beine), insbesondere in den Sehnen, Gelenken, Muskeln
Gangstörungen - Missempfindungen (Ameisenlaufen, Kribbeln, Störung der Temperaturwahrnehmung, pelzigem Gefühl)
- depressive Stimmungslage
- extreme Müdigkeit (sog. Fatigue)
- Gedächtnisstörungen
- Halluzinationen, Psychosen
- Schlafstörungen
- Beeinträchtigung der Sinne (Hören, Sehen, Schmecken, Riechen)
- Plötzlich auftretende schweren Bauch-, Brustkorb- oder Rückenschmerzen
- Hinweis: Sehnenschäden können innerhalb von 48 Stunden auftreten, aber auch mit einer Verzögerung (Latenz) von einigen Monaten nach Beendigung der Behandlung
Außerdem: Melden Sie Ihre Nebenwirkung!
Beobachten Sie Nebenwirkungen unter der Behandlung mit einem Fluorchinolon-haltigen Antibiotikum oder auch mit anderen Medikamenten, sollten Sie diese umgehend melden. Oftmals reichen wenige Meldungen aus, um die Öffentlichkeit über schwere Vorkommnisse zu informieren und Beipackzettel zu aktualisieren, wie die **Rote-Hand-Briefe** wirkungsvoll zeigen.
Unser Meldeservice bietet Ihnen hierfür die einfache und schnelle Möglichkeit, Nebenwirkungen zu melden, ohne dabei Ihre Identität preiszugeben. Zudem können Sie Ihren Arzt oder Apotheker in die Meldung einbinden. Mit jeder Meldung tragen Sie aktiv zur Verbesserung der Arzneimittelsicherheit bei, indem eine bessere Informationsbasis für die zukünftige Verordnung von Arzneimitteln geschaffen wird.
Quellen: RHB