Rote-Hand-Briefe – was ist das eigentlich?
Mit den sogenannten ”Rote-Hand-Briefen” informieren die Pharmahersteller medizinische Fachkreise, d.h. Ärzte und Apotheker, über neu entdeckte Arzneimittelrisiken, wie etwa über Erkenntnisse zu neuen Neben- und Wechselwirkungen sowie fehlerhaften Produkten, die die Sicherheit eines Arzneimittels betreffen. In unserer neuen Rubrik fassen wir für Sie die primär an Fachkreise gerichteten Rote-Hand-Briefe einfach und kompakt zusammen. So sind Sie als Patient immer bestens über neue sicherheitsrelevante Ereignisse informiert, die die Einnahme von Medikamenten betreffen.
Liebe Patientin, lieber Patient,
lesen Sie hier unsere “patientenfreundliche” Fassung des Rote-Hand-Briefes vom 21. Dezember 2021 zu Irinotecan.
Worum geht es?
Die Zulassungsinhaber von Irinotecan-haltigen Arzneimitteln informieren in Abstimmung mit dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) darüber, dass Patienten, die sogenannte langsame UGT1A1-Metabolisierer sind, nach einer Behandlung mit Irinotecan ein erhöhtes Risiko für schwere Neutropenie (Mangel an bestimmten weißen Blutkörperchen, den sogenannten neutrophilen Granulozyten) und Durchfall haben. Dieses Risiko steigt mit der Dosis von Irinotecan.
Irinotecan-haltige Arzneimittel sind angezeigt zur Behandlung von Patienten mit fortgeschrittenem / metastasiertem kolorektalem Karzinom (Dickdarm- und Enddarmkrebs), entweder als alleiniges Chemotherapeutikum (Monotherapie) oder in Kombination mit anderen.
Die empfohlene Dosis Irinotecan für die Monotherapie beträgt 350 mg/m2 Körperoberfläche alle drei Wochen. Die empfohlene Dosis Irinotecan in der Kombinationstherapie beträgt 180 mg/m2 Körperoberfläche alle zwei Wochen.
Irinotecan selbst ist ein zunächst noch unwirksames sogenanntes Prodrug, das erst im Körper des Patienten durch bestimmte Enzyme in Leber und Blut zum eigentlichen Wirkstoff SN-38 aktiviert wird. Dieser Wirkstoff hemmt bestimmte Arten von Krebszellen an ihrer unkontrollierten Vermehrung und tötet sie ab. SN-38 wird dann in Leber und Darm durch andere Enzyme zum inaktiven SN-38-Glucuronid (SN-38G) abgebaut. Die Uridin-Diphosphat (UDP)-Glucuronosyltransferase 1A1 (UGT1A1) ist dabei das wichtigste Enzym für die Deaktivierung von SN-38.
Es gibt Patienten, die eine angeborene vollständig oder teilweise verringerte Aktivität von Uridin-Diphosphat (UDP)-Glucuronosyltransferase 1A1 (UGT1A1) haben. Sie werden als langsame UGT1A1-Metabolisierer bezeichnet. Bei ihnen werden u. a. Arzneimittel, die mit Hilfe dieses Enzyms inaktiviert und verstoffwechselt werden, langsamer abgebaut. Hierzu zählt neben Irinotecan beispielsweise auch das Schmerzmittel Paracetamol.
Bei einer üblichen Dosierung oder bei Einhaltung der normalerweise empfohlenen Dosierungsintervalle kommt es bei diesen Patienten ungewollt zu höheren Arzneimittelspiegeln im Blut. Eine solche unbeabsichtigte relative Überdosierung ist dann verbunden mit dem erhöhten Risiko verstärkter Nebenwirkungen.
Sogenannte langsame UGT1A1-Metabolisierer sind z.B. Patienten mit dem Gilbert-Syndrom, auch als Morbus Meulengracht bekannt, oder auch Patienten mit dem Crigler-Najjar-Syndrom.
Der Morbus (Gilbert-)Meulengracht ist eine erblich bedingte Stoffwechselstörung beim Abbau des Blutfarbstoffs Hämoglobin, die häufiger bei Männern als bei Frauen auftritt. Am Abbau des Hämoglobin ist das Enzym UGT1A1 maßgeblich beteiligt. Wenn seine Aktivität vermindert ist, kann es phasenweise, vor allem in Stress-Situationen oder beim Fasten zu einem erhöhten Bilirubinspiegel (Hyperbilirubinämie) im Blut kommen, was gelegentlich auch zu einer leichten Gelbfärbung der normalerweise weißen Lederhaut des Auges (ähnlich wie bei einer Gelbsucht) führt. Der Morbus (Gilbert-)Meulengracht hat keinen Krankheitswert, da weder die Funktion der roten Blutkörperchen noch die der Leber gestört sind und die erhöhten Bilirubinspiegel nur phasenweise auftreten und unschädlich sind.
Während beim Morbus (Gilbert-)Meulengracht die UGT1A1-Aktivität noch etwa 30% beträgt, ist sie beim Crigler-Najjar-Syndrom auf 0 bis 10% reduziert. Die betroffenen Patienten sind durch die permanente und ausgeprägte Erhöhung des Bilirubin tatsächlich erheblich erkrankt und leiden zudem unter starkem Juckreiz.
Nach einer Behandlung mit Irinotecan in üblicher Dosis kann es bei Patienten mit verminderter UGT1A1-Aktivität dann zu einer bedrohlichen Neutropenie (Mangel an bestimmten weißen Blutkörperchen, den sogenannten neutrophilen Granulozyten) und zu schwerem Durchfall kommen. Dieses Risiko steigt in Abhängigkeit von der Dosis von Irinotecan.
Ob bei einem Patienten eine angeborene verminderte Aktivität des UGT1A1-Enzyms vorliegt, lässt sich durch eine genetische Untersuchung (UGT1A1-Genotypisierung) feststellen.
Diese kann bei Patienten, die Irinotecan in Dosierungen über 180 mg/m2 Körperoberfläche erhalten und bei geschwächten Patienten durchgeführt werden, um jene mit einer verringerten UGT1A1-Aktivität zu identifizieren und die Dosierung von Irinotecan ggf. anzupassen. Jedoch ist die Aussagekraft einer Genotypisierung vor Behandlungsbeginn mit Irinotecan zur Vermeidung von schwerer Neutropenie und Durchfall nur eingeschränkt gegeben, da die schweren Nebenwirkungen einer Chemotherapie mit Irinotecan nicht alleine von der Aktivität des UGT1A1-Enzyms abhängen.
Eine geringere Irinotecan-Anfangsdosis sollte dennoch bei Patienten mit verringerter UGT1A1- Aktivität in Betracht gezogen werden. Dies gilt insbesondere für Patienten, denen Dosen von über 180 mg/m2 verabreicht werden, oder die geschwächt sind.
Bei guter Verträglichkeit können nachfolgende Dosen dann erhöht werden.
Die entsprechenden Abschnitte der Fach- und Gebrauchsinformationen der Irinotecan-haltigen Arzneimittel werden aktualisiert. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte BfArM bewertet das Nutzen-Risiko-Verhältnis von Irinotecan weiterhin insgesamt als positiv.
Was ist zu tun?
Wenn Sie am Gilbert-Syndrom oder am Crigler-Najjar-Syndrom leiden, dürfte Ihnen dies schon vor Beginn einer Chemotherapie mit Irinotecan bekannt und in diesem Fall eine Genotypisierung nicht mehr erforderlich sein. Aber umso wichtiger ist es, dass Sie Ihren behandelnden Arzt von dieser vorbestehenden Diagnose in Kenntnis setzen.
Da aber auch weniger ausgeprägte Aktivitätsminderungen des Enzyms UGT1A1 auf die Toxizität von Irinotecan einen Einfluss nehmen und das Risiko von schwerer Neutropenie oder von Durchfällen erhöhen können, ist eine entsprechende Genotypisierung sinnvoll, wenn Sie laut Behandlungsschema Irinotecan in einer Dosierung von mehr als 180 mg/m2 Körperoberfläche erhalten sollen oder wenn Sie durch Ihre Krebserkrankung oder auch durch andere vorbestehende Erkrankungen bereits sehr geschwächt sind.
Neben der Genotypisierung wird Ihr Arzt auch engmaschige Kontrollen Ihres Blutbildes vornehmen, um eine ausgeprägte Verminderung der Neutrophilen Granulozyten als toxischen Effekt der Chemotherapie erkennen und behandeln zu können. Nehmen Sie daher alle anberaumten Kontrolltermine in Ihrem eigenen Interesse sehr ernst!
Außerdem: Melden Sie Ihre Nebenwirkung!
Beobachten Sie Nebenwirkungen unter der Behandlung mit Irinotecan-haltigen Arzneimitteln oder auch mit anderen Medikamenten, sollten Sie diese umgehend melden. Oftmals reichen wenige Meldungen aus, um die Öffentlichkeit über schwere Vorkommnisse zu informieren und Beipackzettel zu aktualisieren, wie die **Rote-Hand-Briefe** wirkungsvoll zeigen.
Unser Meldeservice bietet Ihnen hierfür die einfache und schnelle Möglichkeit, Nebenwirkungen zu melden, ohne dabei Ihre Identität preiszugeben. Zudem können Sie Ihren Arzt oder Apotheker in die Meldung einbinden. Mit jeder Meldung tragen Sie aktiv zur Verbesserung der Arzneimittelsicherheit bei, indem eine bessere Informationsbasis für die zukünftige Verordnung von Arzneimitteln geschaffen wird.
Quellen: RHB