Rote-Hand-Briefe – was ist das eigentlich?
Mit den sogenannten ”Rote-Hand-Briefen” informieren die Pharmahersteller medizinische Fachkreise, d.h. Ärzte und Apotheker, über neu entdeckte Arzneimittelrisiken, wie etwa über Erkenntnisse zu neuen Neben- und Wechselwirkungen sowie fehlerhaften Produkten, die die Sicherheit eines Arzneimittels betreffen. In unserer neuen Rubrik fassen wir für Sie die primär an Fachkreise gerichteten Rote-Hand-Briefe einfach und kompakt zusammen. So sind Sie als Patient immer bestens über neue sicherheitsrelevante Ereignisse informiert, die die Einnahme von Medikamenten betreffen.
Liebe Patientin, lieber Patient,
Lesen Sie hier unsere “patientenfreundliche” Fassung des Rote-Hand-Briefes vom 6. Februar 2023 zu Amfepramon-haltigen Arzneimitteln, die ab sofort in Deutschland und in der gesamten EU nicht mehr erhältlich sind.
Worum geht es?
In Abstimmung mit der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) und dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) möchten Sie die Artegodan GmbH und Temmler Pharma GmbH über den folgenden Sachverhalt informieren:
Die Europäische Kommission hat am 13. Januar 2023 die nationalen Zulassungen für alle Amfepramon-haltigen Arzneimittel widerrufen.
Dieser Beschluss ist in allen EU-Mitgliedsstaaten gültig.
Aufgrund des Risikos einer pulmonalen arteriellen Hypertonie (erhöhter Blutdruck in den Lungenarterien), von kardio- und zerebrovaskulären Erkrankungen (z.B. Herzinfarkt, Schlaganfall) sowie von möglicher Arzneimittelabhängigkeit wird der nur kurzfristige Nutzen der Behandlung mit Amfepramon als nicht mehr ausreichend positiv bewertet.
Dies ist das Ergebnis einer Überprüfung der verfügbaren Daten. Diese hatte gezeigt, dass die bereits in der Vergangenheit ergriffenen Maßnahmen zur Einschränkung der Verwendung dieser Arzneimittel bei Patienten, die ein erhöhtes Risiko für die oben beschriebenen unerwünschten Arzneimittelwirkungen haben, die mit der Dauer der Behandlung zunehmen können, nicht ausreichend wirksam waren.
Infolgedessen wurden die Zulassungen für Amfepramon-haltige Arzneimittel nun widerrufen bzw. waren bereits vorher seitens der Zulassungsinhaber zurückgegeben worden, sodass diese Arzneimittel schon nicht mehr auf dem Markt der Europäischen Union (EU) erhältlich sind.
Alle im Markt befindlichen Chargen wurden von den Herstellern bereits ab Ende November 2022 aus Apotheken und Großhandel zurückgerufen.
Ärzte sollten ihre Patienten, die derzeit noch mit Amfepramon behandelt werden, auf geeignete alternative Möglichkeiten zur Behandlung ihrer Adipositas (Fettleibigkeit) umstellen.
Hintergrundinformationen
Amfepramon ist ein so genanntes Sympathomimetikum, das zur Gruppe der zentral (im Gehirn) wirkenden Anti-Adipositas-Arzneimittel gehört. Es konnte als unterstützende Behandlung zu einer Diät bei Patienten mit Übergewicht und einem Body-Mass-Index (BMI) von mindestens 30 kg/m2 verordnet werden, die auf andere geeignete gewichtsreduzierende Maßnahmen alleine nicht angesprochen haben. Amfepramon-haltige Arzneimittel waren für eine Anwendungsdauer von vier bis sechs Wochen und nicht länger als drei Monate zugelassen und rezeptpflichtig.
Amfepramon wirkt sowohl auf das Herz-Kreislauf-System als auch auf die Gehirnaktivität infolge seiner Durchquerung der Blut-Hirn-Schranke. Es kann somit zu den Psychostimulantien gezählt werden.
Amfeprampn unterdrückt Bedürfnisse wie Schlaf, Appetit, Durst und Harnausscheidung. Es steigert für die Dauer seiner Wirkung die psychische und physische Leistungsfähigkeit, erhöht Konzentrationsvermögen, Aufmerksamkeit und Wachheit. Im Körper verursacht die Substanz die Ausschüttung von Noradrenalin und Dopamin, welche auch hauptverantwortlich für die Wirkungen am Herz-Kreislauf-System und Gehirn sind. Blutdruck und Herzfrequenz erhöhen sich, die Lunge wird stärker durchblutet, was bei Patienten mit entsprechenden Vorerkrankungen zu den oben beschriebenen schweren Nebenwirkungen führen kann. Die stimulierende Wirkung auf Nervensystem und Psyche ist darüber hinaus förmlich eine Einladung zu missbräuchlicher Anwendung, die leicht in eine Abhängigkeit mündet.
Bedenken hinsichtlich schwerwiegender Fälle von Nebenwirkungen sowie ein beobachteter Off-Label Use über einen längeren als den zugelassenen Zeitraum (bis zu zwanzig Jahre) sowie kontraindizierte Anwendung während der Schwangerschaft veranlassten die Europäische Arzneimittelagentur (EMA), eine gründliche Bewertung Amfepramon-haltiger Arzneimittel einzuleiten, die auch die Beratung durch eine unabhängige Expertengruppe umfasste.
Daten aus Beobachtungsstudien und Informationen aus dem Spontanmeldesystem haben ein inakzeptables Maß an Nichteinhaltung von Maßnahmen zur Risikominimierung gezeigt. Die Arzneimittel wurden länger als die maximal empfohlenen drei Monate angewendet, wodurch sich möglicherweise das Risiko schwerwiegender Nebenwirkungen wie pulmonaler arterieller Hypertonie (erhöhter Blutdruck in den Lungenarterien) und Arzneimittelabhängigkeit erhöhen kann.
Die Arzneimittel wurden auch bei Patienten angewendet, bei denen Amfepramon kontraindiziert ist, nämlich bei Patienten mit aktuellen oder in der Vorgeschichte aufgetretenen Herz-Kreislauf- oder zerebrovaskulären Erkrankungen, psychiatrischen Störungen oder in Kombination mit anderen zentral wirkenden Medikamenten gegen Fettleibigkeit (Anti-Adiposita), wodurch sich deren Risiko für das Auftreten unerwünschter Ereignisse gleichfalls erhöht.
Darüber hinaus gab es Hinweise auf eine Anwendung während der Schwangerschaft, die Risiken für das ungeborene Kind mit sich bringen könnte.
Die Einführung weiterer Maßnahmen zur Minimierung dieser Risiken wurde erwogen. Es wurde jedoch die Schlussfolgerung gezogen, dass diese wahrscheinlich – ebenso wie die vorherigen – nicht hinreichend wirksam sein würden. Unter dieser Annahme war davon auszugehen, dass die genannten Risiken die begrenzten Vorteile der – gemäß seiner ursprünglichen Zulassung – kurzfristigen Anwendung von Amfepramon als unterstützende Behandlung bei Patienten mit Übergewicht und einem BMI von 30 kg/m2 oder höher, überwiegen.
Diese Arzneimittel sind bereits nicht mehr auf dem EU-Markt erhältlich, und Ärzte sollten ihre Patienten über andere Behandlungsmöglichkeiten beraten.
Was ist zu tun?
Wenn Sie aktuell noch mit einem Amfepramon-haltigen Arzneimittel behandelt werden (Handelsnamen in Deutschland sind u.a. Regenon und Tenuate Retard) und Ihr behandelnder Arzt noch nicht von der weiteren Einnahme abgeraten hat, ergreifen Sie bitte selbst die Initiative und fragen Ihren Arzt (oder auch Apotheker) nach möglichen, besser verträglichen Alternativen.
Beenden Sie aber nicht eigenmächtig und ohne Rücksprache die Einnahme Ihres Amfepramon-haltigen Medikaments. Denn falls eine Abhängigkeit eingetreten sein sollte, ist mit Absetzreaktionen zu rechnen, auf die man vorbereitet sein und entsprechend reagieren muss.
Außerdem: Melden Sie Ihre Nebenwirkung!
Beobachten Sie Nebenwirkungen unter der Behandlung mit einem Amfepramon-haltigen Arzneimittel oder auch mit anderen Medikamenten, sollten Sie diese umgehend melden. Oftmals reichen wenige Meldungen aus, um die Öffentlichkeit über schwere Vorkommnisse zu informieren und Beipackzettel zu aktualisieren, wie die **Rote-Hand-Briefe** wirkungsvoll zeigen.
Unser Meldeservice bietet Ihnen hierfür die einfache und schnelle Möglichkeit, Nebenwirkungen zu melden, ohne dabei Ihre Identität preiszugeben. Zudem können Sie Ihren Arzt oder Apotheker in die Meldung einbinden. Mit jeder Meldung tragen Sie aktiv zur Verbesserung der Arzneimittelsicherheit bei, indem eine bessere Informationsbasis für die zukünftige Verordnung von Arzneimitteln geschaffen wird.
Quellen: RHB