Rote-Hand-Briefe – was ist das eigentlich?
Mit den sogenannten ”Rote-Hand-Briefen” informieren die Pharmahersteller medizinische Fachkreise, d.h. Ärzte und Apotheker, über neu entdeckte Arzneimittelrisiken, wie etwa über Erkenntnisse zu neuen Neben- und Wechselwirkungen sowie fehlerhaften Produkten, die die Sicherheit eines Arzneimittels betreffen. In unserer neuen Rubrik fassen wir für Sie die primär an Fachkreise gerichteten Rote-Hand-Briefe einfach und kompakt zusammen. So sind Sie als Patient immer bestens über neue sicherheitsrelevante Ereignisse informiert, die die Einnahme von Medikamenten betreffen.
Liebe Patientin, lieber Patient,
lesen Sie hier unsere “patientenfreundliche” Fassung des Rote-Hand-Briefs vom 29. Oktober 2020 zu Fluorchinolonen (eine Antibiotika-Gruppe, die auch als Gyrase-Hemmer bezeichnet wird).
Worum geht es?
Die Zulassungsinhaber/Hersteller von Antibiotika, die zur Gruppe der Fluorchinolone oder Gyrasehemmer gehören, informieren in einer mit der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) und dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) abgestimmten Erklärung über ein mögliches neues Risiko dieser Arzneimittel.
Fluorchinolone sind so genannte Breitbandantibiotika, die viele verschiedene Bakterienarten daran hindern, sich weiter zu vermehren. Man erkennt diese Medikamente an den Wirkstoffen mit der Namensendung “-floxacin”. In Deutschland zugelassene Wirkstoffe dieser Gruppe sind Ciprofloxacin, Levofloxacin, Moxifloxacin, Norfloxacin und Ofloxacin.
Bereits in einem Rote-Hand-Brief vom 8. April 2019 wurde über gravierende, lang anhaltende und teilweise unumkehrbare, dauerhafte Nebenwirkungen am Bewegungsapparat und dem Nervensystem informiert und darauf hingewiesen, dass Antibiotika dieser Wirkstoffgruppe nicht als Mittel der ersten Wahl bei einfachen bakteriellen Infektionen oder sogar nur zur Vorbeugung von Infektionen verschrieben werden dürfen, sondern lediglich als Reserve (Mittel der zweiten Wahl) dienen, wenn andere, üblicherweise empfohlene Antibiotika zuvor nicht ausreichend gewirkt oder die nachgewiesenen Bakterien in der Resistenzprüfung eine Empfindlichkeit nur gegenüber einem Antibiotikum der Fluorchinolon-Gruppe gezeigt haben. Auch war bereits im Oktober 2018 auf mögliche schwerwiegende
Nebenwirkungen am Herz-Kreislaufsystem hingewiesen worden einschließlich dem Risiko der Ausbildung einer Aussackung (Aneurysma) der Hauptschlagader (Aorta), auch mit der Gefahr des Auftretens innerer Risse und Einblutungen in die Aortenwand (Aortendissektion) sowie mit der Gefahr eines durchgehenden Risses der Gefäßwand (Aortenruptur) mit lebensbedrohlicher Einblutung in die Brust- oder Bauchhöhle.
Nun war bei der Auswertung medizinischer Daten von Patienten, die mit Fluorchinolonen behandelt worden waren, ein zweifach erhöhtes Risiko für die Ausbildung einer Herzklappeninsuffizienz, d.h. eines fehlerhaften, unvollständigen Schließens der betroffenen Herzklappe mit Blutrückfluss (Regurgitation) aufgefallen im Vergleich zu Patienten, die mit anderen Antibiotika (z.B. Amoxicillin oder Azithromycin) behandelt worden waren.
Betroffen waren die Mitral- und Aortenklappe. Beide sind Klappen des linken Herzens, das mit einem Blutdruck von normalerweise 120 / 80 mmHg sauerstoffreiches Blut in den Körper pumpt. Die Mitralklappe befindet sich zwischen dem linken Herzvorhof und der linken Herzkammer, die Aortenklappe befindet sich zwischen der linken Herzkammer und der Hauptschlagader, der Aorta, von der aus das Blut in den Körperkreislauf geleitet wird.
Die Mitralklappe öffnet sich, wenn Blut aus dem linken Vorhof in die linke Herzkammer gepumpt wird und schließt sich, wenn die Aortenklappe sich öffnet und der Muskel der linken Herzkammer das Blut anschließend in die Aorta pumpt. Danach schließt sich die Aortenklappe wieder, während durch die wieder-geöffnete Mitralklappe frisches Blut aus dem linken Vorhof in die zuvor geleerte linke Herzkammer nachgepumpt wird.
Probleme bei einer Herzklappeninsuffizienz
Bei einer Klappeninsuffizienz schließt die Klappe nicht richtig, so dass im Falle einer undichten Mitralklappe Blut aus der linken Herzkammer in den Vorhof zurückfließt, das dann nicht durch die geöffnete Aortenklappe dem Körperkreislauf zugeführt werden kann. Im Falle der undichten Aortenklappe fließt Blut in die linke Herzkammer zurück, anstatt in der Aorta in den Körperkreislauf befördert zu werden. In beiden Fällen wird der Körper mit weniger sauerstoffreichem Blut versorgt als es normalerweise mit jedem Herzschlag möglich wäre. Die Organe erleiden Sauerstoffmangel und der gesamte Organismus ist weniger leistungsfähig.
Die Entwicklung einer Herzklappeninsuffizienz wird auf einen Abbau des Kollagens in den Bindegewebsfasern der Herzklappe zurückgeführt, der offenbar durch die Fluorchinolone begünstigt oder sogar verursacht wird. Ein Kollagenabbau wird dementsprechend auch angenommen, ursächlich zu sein für die mittlerweile als Nebenwirkung der Fluorchinolone bekannten Erkrankungen der Sehnen (Entzündungen und Sehnenrisse) und der Aorta (Aneurysma).
Ein besonderes Risiko, eine Herzklappeninsuffizienz/Regurgitation nach einer Behandlung mit Fluorchinolonen zu erleiden, haben Patienten mit Vorerkrankungen der Herzklappen wie angeborenen oder bereits infolge anderer Erkrankungen wie beispielsweise einer infektiösen Endokarditis bestehender Herzklappenfehler, Patienten mit genetisch bedingter Veränderungen der Bindegewebsstruktur wie das Marfan-Syndrom oder Ehlers-Danlos-Syndrom.
Auch das seltene Turner-Syndrom, bei dem statt der üblicherweise zwei geschlechtsbestimmenden Chromosomen X und X (weiblich) oder X und Y (männlich) nur ein einzelnes X-Chromosom vorhanden ist, geht mit Veränderungen der Bindegewebsstruktur, unter anderem der Blutgefäßwände einher. Autoimmunerkrankungen des rheumatischen Formenkreises wie die rheumatoide Arthritis oder auch der Morbus Behcet sind oft mit Entzündungen der Blutgefäßwände (Vaskulitis) verbunden. Auch Patienten mit unbehandeltem Bluthochdruck (Hypertonie) sind gefährdet, da dieser zu einer chronischen Überbeanspruchung und Vorschädigung der Herzklappen und der Blutgefäßwände führt.
Daher sollen Patienten mit diesen Risikofaktoren eine Behandlung mit Fluorchinolonen (systemisch, also in Form von Tabletten oder Infusionen, aber auch inhalativ über einen Vernebler) nur nach sorgfältiger Nutzen-Risiko-Abwägung unter Berücksichtigung anderer gleichwertiger Behandlungsmöglichkeiten erhalten.
Patienten dieser Risikogruppe wird daher geraten, im Falle einer akut auftretenden Atemnot, neu aufgetretenen Herzklopfen oder bei einer Entwicklung von Wasseransammlungen (Ödemen) im Bauchraum oder in den unteren Extremitäten (Füße, Unter-, aber auch Oberschenkel) unverzüglich ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Was ist zu tun?
Insbesondere als Angehöriger der oben beschriebenen Risikogruppe, aber auch grundsätzlich, wenn Sie als Patient mit einem Fluorchinolon-Antibiotikum behandelt werden oder in der Vergangenheit behandelt wurden, sollten Sie beim Auftreten von Atemnot, Wassereinlagerungen in den Beinen und im Bauchbereich, bisher nicht gekanntem Herzklopfen oder einer abfallenden Leistungsfähigkeit zeitnah Ihren behandelnden Arzt oder auch eine Notfallambulanz aufsuchen, damit die Ursache Ihrer Beschwerden rasch unter Berücksichtigung des Risikos einer Herzklappeninsuffizienz abgeklärt werden kann.
Außerdem: Melden Sie Ihre Nebenwirkung!
Beobachten Sie Nebenwirkungen unter oder nach der Behandlung mit einem Fluorchinolon-Antibiotikum oder auch mit anderen Medikamenten, sollten Sie diese umgehend melden. Oftmals reichen wenige Meldungen aus, um die Öffentlichkeit über schwere Vorkommnisse zu informieren und Beipackzettel zu aktualisieren, wie die **Rote-Hand-Briefe** wirkungsvoll zeigen.
Unser Meldeservice bietet Ihnen hierfür die einfache und schnelle Möglichkeit, Nebenwirkungen zu melden, ohne dabei Ihre Identität preiszugeben. Zudem können Sie Ihren Arzt oder Apotheker in die Meldung einbinden. Mit jeder Meldung tragen Sie aktiv zur Verbesserung der Arzneimittelsicherheit bei, indem eine bessere Informationsbasis für die zukünftige Verordnung von Arzneimitteln geschaffen wird.
Quellen: Rote-Hand-Brief zu Fluorchinolonen vom 29.10.2020